„There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“ 

(Leonard Cohen)

Hochsensibilität

Hochsensible Menschen sind vernetzte Denker. Für sie sind Zusammenhänge offensichtlich, die sich anderen erst nach umfangreichen Erklärungen erschließen.

Basis für diese Vernetzung ist ein ausgeprägtes Wertesystem und eine in allen Bereichen sehr feine Wahrnehmung. Hochsensible ahnen, wie der Idealzustand wäre und an welchen Stellen etwas nicht stimmt.

Umso schmerzlicher sind sie sich bewusst, dass die Realität diesem Ideal nicht entspricht. Das kann sich als Weltschmerz bis hin zu depressiven Stimmungen äußern.

Aber auch Perfektionismus ist eine typische hochsensible Eigenschaft: dem selbst erkannten Ideal kann man nie gerecht werden. Hochsensible tragen eine große Sehnsucht in sich nach ihrer Lebensaufgabe, mit der sie zur Verbesserung der Welt beitragen wollen. Wenn sie diese Aufgabe finden, gibt ihnen das viel Kraft. Sie leiden, wenn sie Dinge tun sollen, die in ihren Augen keinen Sinn ergeben oder ihrem Wertesystem widersprechen. Und sie sind mit umso größerem Einsatz dabei, wenn sie ihre Kraft in den Dienst einer höheren Sache stellen können.

Das Gefühl anders zu sein ist ein weiteres typisches Kennzeichen hochsensibler Menschen, das oft vor allem Jugendlichen zu schaffen macht. In unserer reizüberfluteten Umwelt machen sich ihre offenen Sinne und tiefe Reizverarbeitung besonders stark bemerkbar. Nicht aushalten zu können, was für andere normal zu sein scheint, kann Verhaltensweisen zur Folge haben die nicht zu einem passen und sich nicht gut anfühlen: z.B. mitmachen und sich – oft auch körperlich – gestresst, erschöpft und unwohl fühlen. Oder sich zurückhalten – und irgendwie nicht wirklich dazugehören.

Doch trotz aller Belastungen, die sich aus der Hochsensibilität ergeben können, ist sie auch ein Geschenk: Die ausgeprägte Wahrnehmung und das schnelle Erkennen von Zusammenhängen sind eine Kompetenz, die zu neuen Lösungen in unbekannten Situationen führen kann. Wenn Hochsensible für sich einen Weg gefunden haben, ihre vielfältigen feinen Empfindungen zu sortieren und ihnen zu vertrauen, sind sie im gleichen Maße, in dem sie tief fühlen können, in der Lage, komplexe Situationen zu überblicken und kreative „out of the box“-Lösungen zu finden.

Den Begriff der Hochsensibilität und hochsensiblen Persönlichkeit (Highly Sensitive Person, HSP) prägte die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron, die sich seit 1995 wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. Sie bezeichnet Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal, d.h. es ist weder Störung noch Krankheit und kann daher auch nicht diagnostiziert werden. Aktuelle Forschungen gehen von einer Häufigkeit von 15 bis 20 Prozent innerhalb der Gesellschaft aus. 3 bis 5 junge Menschen einer durchschnittlichen Schulklasse könnten also statistisch gesehen dazu gehören. Typisch sind nach Elaine Aaron 4 Eigenarten hochsensibler Menschen, abgekürzt DOES:

D depth of processing – tiefe differenzierte Verarbeitung von Wahrnehmungen
O easily overstimulated – schneller übererregt, die Reizschwelle ist niedriger
E emotional reactivity and high empathy – hohe Empathie und emotionale Reaktionsfähigkeit
S sensitivity to subtle stimuli – Wahrnehmung von Feinheiten

Mittlerweile wird an mehr als 50 Universitäten weltweit zu dem Thema geforscht. In einer 2014 in der Fachzeitschrift „Brain and Behavior“ veröffentlichten Studie konnte z.B. mittels MRT nachgewiesen werden, dass die Hirnareale, die für Aufmerksamkeit, Integration von sensorischen Informationen und Empathie zuständig sind, bei hochsensiblen Menschen deutlich stärker reagieren.*

Außerdem wichtig zu wissen:

Psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen oder auch Angststörungen können durch Hochsensibilität zwar verstärkt werden, diese ist aber nicht die Ursache! Wiederum können Fähigkeiten aus der Hochsensibilität helfen, psychische Belastungen zu reduzieren und ihnen anders zu begegnen.

Und so wie andere menschliche Eigenschaften auch, ist Sensibilität in der Gesellschaft auf einer Glockenkurve von eher wenig bis stark ausgeprägt verteilt. Nicht hochsensibel zu sein ist also keinesfalls gleichzusetzen damit, unsensibel zu sein! In der Vielfalt aller Menschen liegt – wenn wir bereit sind sie zu erkennen – eine Stärke unserer Gemeinschaft mit ihren unterschiedlichen Herausforderungen.

Leider wird Hochsensibilität oft immer noch eher negativ wahrgenommen. Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal werden als nicht belastbar und zu empfindlich für unsere Welt dargestellt. Zum einen liegt das vermutlich daran, dass man erst dann nach Ursachen sucht, wenn sich etwas als Belastung herausstellt. Möglicherweise hat es aber auch damit zu tun, dass der Test, den Elaine Aron entwickelt hat und der vielfach im Internet verfügbar ist, in 27 Fragen nur 4 positive Merkmal abfragt im Verhältnis zu 23 negativen. Da für eine erste persönliche Einschätzung die Fragen daraus aber durchaus hilfreich sein können, habe ich ein paar herausgegriffen.  Je mehr davon oder auch je stärker einzelne auf dich zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass du hochsensibel bist.


Selbsteinschätzung

1. Hast du ein reiches, komplexes Innenleben?

2. Ärgert es dich, wenn andere zu viele Dinge auf einmal von dir wollen oder du mehrere Dinge gleichzeitig tun musst?

3. Erlebst du Kunst oder Musik intensiv und wirkt dieses Erleben noch lange nach?

4. Bringen dich Veränderungen in deinem Leben aus dem Gleichgewicht?

5. Achtest du auf zarte oder schöne Gerüche, Geschmäcker, Klänge oder Kunstwerke und genießt du diese?

6. Wirst du durch intensive Reize wie z.B. laute Geräusche oder Chaos gestört?

7. Bist Du gewissenhaft? Machst du Dinge gern genau und giltst als zuverlässig?

8. Wirst du nervös und unsicher und erbringst infolgedessen schlechtere Leistungen, wenn du bei einem Wettbewerb oder einer Aufgabe beobachtet wirst?

9. Ziehst du dich nach anstrengenden Tagen gern zurück an einen ruhigen Ort (in deinem Zimmer oder in der Natur), um wieder ganz zu dir zu kommen?


Weiterführende Literatur und empfehlenswerte Links

Dr. Elaine N. Aron, „Sind Sie hochsensibel?“ mvg
Der Klassiker. Erste wissenschaftliche Untersuchung der amerikanischen Uniprofessorin und Psychotherapeutin, die den Begriff „Highly Sensitive Person – HSP“ prägte.

Georg Parlow, „Zart besaitet: Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochempfindliche Menschen“ Festland
Sehr gutes Buch zum Einstieg in die Thematik für (junge) Erwachsene/ Eltern/ Pädagogen, weil es klar, einfach und nachvollziehbar geschrieben ist.

Tom Falkenstein, „Hochsensible Männer: Mit Feingefühl zur eigenen Stärke“ Junfermann
Der psychologische Psychotherapeut beleuchtet alle Aspekte der Hochsensibilität aus Sicht des Mannes. Wissenschaftlich fundiert und trotzdem praxisnah.

Britta Karres, „Komm raus, ich seh dich!: Von Glück, Selbstwirksamkeit und Wachsen hochsensibler und hochbegabter Kinder“ Festland
Schwerpunkt auf der Schulzeit hochsensibler und/oder hochbegabter Kinder.

Jutta Böttcher (Hrsg.), „Fachbuch Hochsensibiliät: Worauf es in der Begleitung Hochsensibler ankommt“ fischer&gann
Die verschiedenen Gesichter der Hochsensibilität – multi-disziplinär aufbereitet: Sechs Autoren stellen sich in ihren Fachrichtungen gemeinsam dem Thema.

Julie Leuze, „Der Geschmack von Sommerregen“ Egmont Ink (ab ca. 14 J.)
Erzählt wird die Liebesgeschichte zwischen einer Synästhetikerin und einem Hochsensiblen.

Sensitive – The Untold Story, Dokumentarfilm 2015
Basierend auf den Veröffentlichungen von Dr. Elaine Aron, mit Dr. Elaine Aron, Alanis Morissette und Dr. Bianca Acevedo.
Als Download erhältlich unter: https://www.amazon.de/dp/B01NBAC1NB

An der Helmut Schmidt Universität in Hamburg gibt es einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Hochsensibilität. Auf der Website findet man ein gut verständliches Interview zum aktuellen Forschungsstand: https://www.hsu-hh.de/hochsensibilitaet-die-wissenschaftlichen-grundlagen

Aurum Cordis – Kompetenzzentrum für Hochsensibilität: https://www.aurum-cordis.de/

* Das Thema der Studie war: „Das hochsensible Gehirn: eine fMRI-Studie über die Sensibilität der sensorischen Verarbeitung und die Reaktion auf die Gefühle anderer.“
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25161824/